Der Schutz des Staates tut not



Interview mit Dr. Wolfgang Schäuble in der Welt am Sonntag

Welt am Sonntag: Ein Wunder ist geschehen: Brüssel hat beschlossen, dass Gurken wieder krumm sein dürfen. Ist Europa auf einem guten Weg?

Dr. Wolfgang Schäuble: Wenn die Gurken wieder krumm sein dürfen, dann ist das doch gut. Offensichtlich setzt sich die Erkenntnis durch, dass in der EU nicht alles einheitlich geregelt werden darf. Für die EU gilt, was auch in der Frage der Integration gilt: Vielfalt bedroht uns nicht, Vielfalt macht stärker und stabiler – was übrigens auch die Krise der Finanzmärkte gezeigt hat. Zu starke Vereinheitlichung mag zwar kurzfristig Vorteile bringen, macht aber das Ganze in Krisen immer anfälliger.

Welt am Sonntag: In Brüssel sitzen ja lauter kluge und sicher gutwillige Beamte. Wie kamen die auf das absurde Krümmungsverbot?

Dr. Schäuble: Zur Krümmung der Gurke kann ich aus eigenem Wissen nichts beitragen. Doch es gibt in der Tat ein Problem in der europäischen Rechtssetzung. Über das Prinzip, Teile einzelstaatlicher Souveränität schrittweise auf europäische Institutionen zu übertragen, hat es nie einen wirklichen Konsens gegeben. Die Widerstände dagegen waren immer stark. Und weil das so ist, hat man in den europäischen Institutionen immer beharrlich versucht, Fakten zu schaffen. Die Devise war: Dort, wo wir etwas mehr Europa erzielen können, dort versuchen wir es. Vielleicht gab es nach dem Scheitern des Versuchs, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen, keinen anderen Weg …

Welt am Sonntag:… als den der Überrumpelung der Bürger?

Dr. Schäuble: So würde ich es nicht sagen. Aber es ist schon so: Subsidiarität hin, Subsidiarität her – wo immer Europa kann, sucht es den Weg der Regulierung. Man darf aber nicht vergessen, dass das nicht nur an den sogenannten EU-Bürokraten liegt. Es gibt ja auch in der breiten Öffentlichkeit den Wunsch, dass möglichst viel möglichst einheitlich geregelt werden soll. Nehmen Sie nur das Beispiel des Rauchverbots. Warum lässt man das nicht in der Länderkompetenz? Nein, es soll unbedingt eine einheitliche Regelung her. Ich halte davon nichts. Oft rufen auch die Bürger nach strikter Vereinheitlichung.

Welt am Sonntag: Das macht das Treiben der EU-Bürokratie aber nicht besser.

Dr. Schäuble: Nein, das nicht. Es gibt in der EU eine Besonderheit, die ich für nicht gut halte. Während in der deutschen Rechtssetzung die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat das Initiativrecht haben, hat auf europäischer Ebene die Kommission das alleinige Initiativrecht. Das führt dann dazu, dass die Kommission sehr selbstbewusst agiert. Man denkt dort: Europäische Regelung kann nur werden, was wir machen. Und wenn wir es unter dieser Präsidentschaft nicht zustande bringen, dann warten wir eben auf die nächste. An uns führt sowieso kein Weg vorbei.

Welt am Sonntag: Wenn die Apparate, die ja nicht politisch verfasst sind, ein Eigenleben haben, unterhöhlt das den politischen Charakter der EU, aber auch die Souveränität der Einzelstaaten.

Dr. Schäuble: Da ist ein ganzes Stück Wahrheit dran. Deswegen war unsere Forderung richtig, es müsse im Rahmen des noch immer nicht ratifizierten Lissaboner Vertrag vorab eine ganz klare Regelung über die Verteilung der Kompetenzen geben. Und sie findet ja auch immer mehr Zustimmung. Die Verankerung eines abstrakten Subsidiaritätsprinzips reicht jedenfalls nicht. Beispiel: Der Arbeitsmarkt ist eine Frage nationaler Zuständigkeit. Gleichwohl gibt es in fast jeder Ratssitzung eine Vorlage, mit der auf fantasievolle Weise versucht wird, Zuständigkeiten für den Arbeitsmarkt nach Brüssel zu ziehen.

Welt am Sonntag: 1946 hat der Erzbrite Churchill in Zürich die Vereinigten Staaten von Europa gefordert. Darum steht es heute nicht so gut. Ist die Idee passé, es könne ein Europa umfassendes Gemeinschaftsgefühl geben?

Dr. Schäuble: Ich hoffe, nicht. Unter Bedrohung wächst eine solche Idee schneller – deswegen war sie 1946, nach zwei Weltkriegen, weiter als heute. Aber es geht auch heute voran. Ich bin sicher, dass die gemeinsame Währung das Bewusstsein der Europäer befördert, dass sie zusammengehören. Die Mehrzahl der Studenten verbringt heute mindestens ein bis zwei Semester im Ausland – das wird das europäische Bewusstsein sicher voranbringen. Ein anderes Beispiel: Auf die Frage, ob es nationale Armeen oder eine europäische Armee geben soll, sagt die Mehrheit der Bürger ganz eindeutig, lieber eine europäische. Das ist doch ein gutes Zeichen.

Welt am Sonntag: Europa soll ein staatsähnliches Gebilde werden. Zu einem Staat gehört eine Öffentlichkeit, die über die Angelegenheiten dieses Staates diskutiert. Doch es gibt keine europäische Öffentlichkeit, sondern nur nationale Öffentlichkeiten.

Dr. Schäuble: Es gibt zu wenig europäische Öffentlichkeit, in Ansätzen aber doch. Etwa – nicht gerade mein Lieblingsbeispiel – bei der fast gesamteuropäischen Position gegen den Irak-Krieg.

Welt am Sonntag: Andere Beispiele?

Dr. Schäuble: Umweltschutz, Klimapolitik. Und auch in der Migrationspolitik wird sich da etwas tun. Oder denken Sie an die Debatten über Integration und über den Islam in Europa. Da gibt es gesamteuropäische Diskussionslinien.

Welt am Sonntag: Von der lichten Öffentlichkeit zur weniger lichten Sicherheit. Sie haben kürzlich den sogenannten „Nackt-Skanner“ als Unsinn bezeichnet. Sonst sind Sie doch aber ein Freund aller Zugewinne an Sicherheit.

Dr. Schäuble: Moment! Es ist völlig richtig und wichtig, dass darüber geforscht wird, wie in sicherheitsrelevanten Bereichen die Menschen nicht mehr nur auf Metall abgetastet werden. Es gibt nun einmal Sprengstoffe, auf die bisherige Detektoren nicht anspringen. Das macht die Kontrollen lästig und unangenehm. Die Suche nach Wegen, dabei ohne Körperkontakt auszukommen, ist völlig legitim. Nur: Solange dabei solche Bilder entstehen, wie wir sie gesehen haben, werden wir so etwas nicht einsetzen. Denn das würde den Anspruch der Sicherheitsorgane, Freiheitsrechte zu schützen, lächerlich machen. Ich hoffe, man findet bald eine Technik, bei der solche die Menschen nackt machenden Bilder nicht mehr entstehen.

Welt am Sonntag: Der Bundestag hat soeben mit den Stimmen der Regierungsmehrheit das neue BKA-Gesetz verabschiedet. Nun darf das BKA erstmals aktiv als Ermittlungsbehörde tätig sein …

Dr. Schäuble: … als Gefahrenabwehrbehörde.

Welt am Sonntag: Sie haben das Gesetz im Bundestag vehement verteidigt gegen die, die nun den Überwachungsstaat kommen sehen. Kein Verständnis für die Gerhard Baums der Republik?

Dr. Schäuble: Nein. Denn Gerhard Baum weiß es besser. Er war selbst einmal Innenminister. Da muss ich mit aller Klarheit sagen: Es ist einfach Unsinn, was er da behauptet. Mit der FDP ist es hier ohnehin komisch: Die FDP tritt traditionellerweise für mehr Bundeskompetenzen ein – während ich für mehr föderale Zuständigkeiten bin. Komisch ist auch: Es war das besondere Bemühen von Rot-Grün gewesen, dem Bundeskriminalamt eine Befugnis für Gefahrenabwehr gegen den Terrorismus zu geben.

Welt am Sonntag: Dennoch: Bekommt das BKA zu viele Befugnisse?

Dr. Schäuble: Es war schon immer so, dass die Polizei in zweierlei Weise mit Straftaten beschäftigt ist: zum einen, wenn sie begangen worden sind. Dann ermittelt die Polizei als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft. Zum anderen hat die Polizei aber auch die Aufgabe, Schaden abzuwehren und Straftaten zu verhindern. Das ist schon deswegen aktuell, weil gegen einen Selbstmordattentäter nach der Tat aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr ermittelt werden kann. Diese präventive Gefahrenabwehr ist bisher Aufgabe der Bundesländer. Heute bekommt das Bundeskriminalamt nur die Kompetenz, die jedes Landeskriminalamt seit eh und je hat. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist grober Unfug, hier von einer „Entfesselung der Polizei“ zu reden, wie das der Abgeordnete Wolfgang Wieland von den Grünen getan hat. Das ist eine Beleidigung jedes Landeskriminalamtes. Und eine komische Logik: Zur Verhinderung von Fahrraddiebstählen, was dem Kollegen Ströbele so wichtig ist, brauchen wir modernste Technologien, aber bei der Abwehr des Terrorismus reicht …

Welt am Sonntag:… der Einsatz von Fahrrädern?

Dr. Schäuble: Das kann ja wohl nicht ernst gemeint sein. Es verschieben sich keine Grenzen. Für bestimmte Gefahren bekommt das BKA neue Kompetenzen, mehr nicht. Es wird kein deutsches FBI geschaffen.

Welt am Sonntag: Schön und gut. Hatte aber der Soziologe Wolfgang Sofsky nicht recht, als er kürzlich schrieb, dass mit den neuen Techniken der Überwachung die Privatheit immer mehr schwindet – jene Privatheit, die unauflöslich zur Freiheit gehört?

Dr. Schäuble: Gewiss. Nehmen sie nur die Ungehemmtheit, mit der die Menschen neue Technologien wie das Internet nutzen und alles Mögliche von sich dabei gerne preisgeben. Seit es das Handy gibt, erfahre ich im Warteraum der Flughäfen lauter private Dinge meiner Mitreisenden, die sie besser bei sich behielten und von denen ich lieber verschont bliebe. Die modernen technologischen Entwicklungen erzwingen eigentlich eine neue Achtsamkeit: Wir müssen uns mühen, uns nicht ständig preiszugeben.

Welt am Sonntag: Ausgerechnet der Staat soll Privatheit schützen?

Dr. Schäuble: Die moderne Welt fördert Anonymität. Und die enthemmt. Und in der gelten nicht immer die Regeln des Anstands. Siehe das, was täglich in U- und S-Bahnen geschieht. Da schützen dann Videokameras Privatheit und Unversehrtheit. Je mehr alte soziale Strukturen, die Sicherheit gaben, verschwinden, desto mehr kommt dem Staat die Aufgabe zu, für Sicherheit und damit auch für Zusammenhalt zu sorgen. Wir brauchen institutionelle Vorkehrungen gegen Anonymität und Bindungslosigkeit. Die Bedrohungen kommen heute nicht vom Staat. Im Gegenteil, der Staat schützt vor ihnen.

Das Interview führte Thomas Schmid