Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble im Interview mit der FAZ



„Karlsruhe ist nicht die Opposition“, sagt Bundesfinanzminister Schäuble. Das Bundesverfassungsgericht habe der tatsächlichen europäischen Entwicklung Raum gegeben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): Herr Minister, sind Sie erleichtert darüber, dass das Bundesverfassungsgericht den Weg für Eurobonds und den Weg in eine europäische Transferunion frei gemacht hat?

BM Schäuble: Ihre Frage ist eine unzutreffende Unterstellung. Die EFSF ist weder der Weg zu Eurobonds noch zur Transferunion. Dementsprechend habe ich diese Entscheidung erwartet. Sie entspricht der Linie des Verfassungsgerichts und der Haltung der Bundesregierung. Karlsruhe hat entschieden, dass der Euro [Glossar]-Rettungsschirm nicht dem Grundgesetz widerspricht. Er dient der Verteidigung der Währung und schafft Stabilität.

FAZ: Nicht wenige halten die Bildung einer paneuropäischen Haftungsgemeinschaft für unvereinbar mit den vertraglichen Grundlagen der Union. Wer, wenn nicht Karlsruhe, sollte dem Einhalt gebieten?

BM Schäuble: Es gibt keine paneuropäische Haftungsgemeinschaft. Wir bewegen uns im Rahmen der europäischen Verträge. Freilich gibt es eine politische Debatte – ähnlich ausführlich wie die Begründung des Bundesverfassungsgerichts – über Inhalt, Befugnisse des Schirms und die Beteiligungsrechte des Parlaments.

FAZ: Apropos ausführliche Entscheidungen: Wendet Karlsruhe hier überholte Vorstellungen auf supranationales exekutivisches Handeln an?

BM Schäuble: Nein, das Verfassungsgericht hat in seiner langen Geschichte gezeigt, dass es mit Rechtsentwicklungen mitgeht, dass es auch mit der europäischen Entwicklung Schritt für Schritt mitgeht. Der Rettungsschirm ist schlicht das Instrument, das wir jetzt brauchen, um in der Eurozone [Glossar] für Stabilität zu sorgen. Er entspricht unserer europäischen und nationalen Verantwortung.

FAZ: Wenn die Parlamentsmehrheit nur Regierungsstütze ist, bedarf es dann nicht der Verfassungsrichter, die schauen, ob das unter dem Grundgesetz so sein kann?

BM Schäuble: Wir haben kein Präsidialsystem. Die Regierung stützt sich auf die auf Dauer angelegte Mehrheit im Parlament. Und Karlsruhe ist nicht die Opposition, wir haben eine unabhängige Justiz. Gerichtspräsident Voßkuhle hat ja zu Beginn der Verhandlung zum Rettungsschirm eindringlich gesagt: Das Verfassungsgericht hat keine Legitimation für politische Entscheidungen. Die liegen in der Hand des Parlaments, das vom Volk gewählt ist. Die Politik, die Demokratie lebt vom Streit. Wer eine politische Position bezieht, muss auch Streit aushalten. Und das relativiert die Autorität, man ist streitbefangen. Es ist kein Zufall, dass die Institutionen, die dem politischen Streit entzogen sind, das höchste Ansehen genießen: das Bundesverfassungsgericht, der Bundespräsident, die Bundesbank.

FAZ: Aber begibt sich Karlsruhe nicht bisweilen auf dieses Feld? Sie haben einmal in dieser Zeitung gesagt: „ Wer Gesetze gestalten will, der sollte sich um ein Bundestagsmandat bewerben.“ Nutzen die Verfassungsrichter ihre sehr üppigen Kompetenzen zu sehr aus?

BM Schäuble: Das war seinerzeit nicht nur auf das Bundesverfassungsgericht gemünzt. Aber jeder muss sich fragen, was er will. Das war ein Ratschlag für die Berufswahl. Ich habe auch schon von bedeutenden Journalisten gehört, dass sie Redakteur geworden seien, um sich politisch zu engagieren. Diese Haltung kann man hinterfragen. Wer Politik machen will, muss sich in die politische Auseinandersetzung begeben.

FAZ: Darf ein Verfassungsgericht „Lebensbereiche“ definieren, in denen keine Kompetenzen übertragen werden dürfen?

BM Schäuble: Die Frage ist: Wie ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle in Europa verteilt? Hier bestätigt sich die These, dass das Verfassungsgericht der tatsächlichen Entwicklung Raum gegeben hat. Wir sind damit gut gefahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

FAZ: Brauchen wir mehr Richter, die politisch erfahren sind, wie Peter Müller, der Udo Di Fabio folgen soll?

BM Schäuble: Dazu will ich keine Spekulation abgeben. Aber der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Gebhard Müller war beispielsweise ein großartiger Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Oder Roman Herzog. Es hat sich stets gezeigt, dass die Frauen und Männer in Karlsruhe in all ihrer Verschiedenheit und Individualität sich ihrer hohen Verantwortung bewusst sind. Eine Rolle, die man eingenommen hat, prägt auch den Menschen. Die Rolle verändert das Bewusstsein.

FAZ: Nun gibt es am Gericht recht viele Professoren und keinen Anwalt. Ist das gut?

BM Schäuble: Insgesamt sind wir mit dem System unseres Auswahlverfahrens gut gefahren. Dass sehr gute Verfassungsrechtler in Karlsruhe sitzen, ist nicht überraschend.

FAZ: Und deshalb haben Sie damals Herta Däubler-Gmelin nicht am Verfassungsgericht sehen wollen?

BM Schäuble: Nein, das ist eine Legende, die auch durch Wiederholung nicht richtig wird. Es ging um das Verfahren. Wir hatten nichts gegen die Person Frau Däubler-Gmelin. Die SPD hatte uns gefragt, ob wir Jürgen Schmude als Bundesverfassungsrichter mittragen würden. Hans- Jochen Vogel, Johannes Rau und Frau Däubler-Gmelin hatten mit Helmut Kohl und mir gesprochen. Ich habe nach sorgfältiger Sondierung Frau Däubler-Gmelin mitgeteilt, dass die Union Herrn Schmude mitwählen würde. Dann hörten wir monatelang nichts. Schließlich ließ man uns unmittelbar vor der Wahl mitteilen, die SPD schlage Frau Däubler-Gmelin vor. Daraufhin sagte ich dem damaligen Fraktionsgeschäftsführer Klose: Wenn Sie ohne jede Absprache jemanden vorschlagen, dann machen Sie das Verfahren kaputt. Die SPD hatte gegen das bewährte Verfahren gröblich verstoßen.

FAZ: Dass Frau Däubler-Gmelin aus dem Zentrum der Parteipolitik kam, spielte keine Rolle?

BM Schäuble: Das hätte man vielleicht prüfen können. Aber wir sind gar nicht in eine Prüfung eingetreten. Wir haben die Integrität des Verfahrens verteidigt.

FAZ: Das hört man immer: Das Verfahren hat sich im Ergebnis bewährt. Aber ist es nicht aus der Sicht des Bürgers unbefriedigend, dass jemand präsentiert wird, den niemand kennt?

BM Schäuble: Mit Verlaub: Nach welchen Maßstäben wollen Sie denn die ausreichende Bekanntheit messen? Anhand der Anzahl an Medienartikeln? Herr Voßkuhle etwa ist ein ausgewiesener Verfassungsrechtler, der vorher Rektor in Freiburg war.

FAZ: Sie hatten die hohe Beliebtheit des Bundesverfassungsgerichts angesprochen . Stecken Sehnsüchte dahinter, welche die Politik nicht erfüllen kann?

BM Schäuble: Nein, das Volk ist klug. Diejenigen, die die politische Macht haben, sollten nie zu hundert Prozent beliebt sein. Damit haben wir ganz schlechte Erfahrungen gemacht in Deutschland. Aber wir brauchen Institutionen, in denen sich das Volk wiederfindet. So hat Voßkuhle mit Blick auf Stuttgart 21 zu Recht daran erinnert, dass demokratische Entscheidungen Bestand haben sollten. Das gilt auch für Entscheidungen, die gerichtlich überprüft worden sind. Die sogenannten Wutbürger akzeptieren nicht einmal mehr die Bestandskraft derartiger Entscheidungen. Das ist eine gefährliche Entwicklung für unser Staatssystem.

FAZ: Woran liegt das?

BM Schäuble: Das muss man beobachten. Interessant ist, dass inzwischen sogar Parteien wählbar erscheinen, die sagen: „Wir haben keine Ahnung. Wenn wir in einen Wettbewerb eintreten, wer am wenigsten Ahnung hat, ist das nicht wirklich hilfreich.

FAZ: 60 Jahre Bundesverfassungsgericht: Welche Entscheidung hat Sie am meisten geärgert?

BM Schäuble: Ich wüsste gar nicht, dass mich eine Entscheidung geärgert hätte. Ich war gelegentlich ein wenig überrascht über einzelne Entscheidungen. Die Karlsruher Richter sind bei der Verfassungsfortbildung engagierter als der US-Supreme Court. Im Hinblick auf die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes mahne ich zur Zurückhaltung.

FAZ: Welchen Richter bewundern Sie am meisten?

Ich respektiere sie alle.

FAZ: Muss ein gutes Verfassungsgericht informelle Kontakte zu den anderen Verfassungsorganen pflegen?

BM Schäuble: Wir gehen damit zurückhaltend um. Wir treffen uns seit Kanzler Kohls Zeiten einmal im Jahr. Es geht darum, dass man sich kennt. Das war es aber auch schon. Ansonsten gibt es wenig Kontakte. Ich telefoniere nicht mit Verfassungsrichtern. Das ist auch vernünftig.

FAZ: Wenn Sie mit Ihren europäischen Kollegen oder auch mit Amerikanern diskutieren, ist das für die ein Kulturschock, dass in Deutschland das Verfassungsgericht überall mitredet?

BM Schäuble: Ja, hier gibt es große Unterschiede. Aber wir haben ja auch den Europäischen Gerichtshof, der über europäisches Recht entscheidet.

FAZ: Dass sich das Verfassungsgericht das letzte Wort vorbehält, ist in Ordnung?

Im Rahmen des Grundgesetzes ja. Immerhin steht seit 1949 in dessen Präambel, Deutschland sei von dem Willen beseelt, als Teil eines vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Auch 1990 wussten wir, warum wir daran festgehalten haben. Seine „zweite Chance“ konnte Deutschland nur in Europa bekommen.

FAZ: Haben Sie einen Geburtstagswunsch an das Bundesverfassungsgericht?

BM Schäuble: Ich habe einen Wunsch an uns: das große Glück unseres freiheitlichen Verfassungsstaats zu bewahren. Wir können aber nicht am alten Regelungsmonopol des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert festhalten. Das hat sich ad absurdum geführt. Natürlich ist es richtig, wie es das Bundesverfassungsgericht sagt, dass die europäische Einigung eines Tages an eine Grenze kommen kann, wo man über eine neue Verfassung nachdenken muss. Aber zurzeit geht es darum, durch die begrenzte Übertragung von Kompetenzen unser gemeinsames Europa schlagkräftiger und stärker zu machen.

FAZ: Aber das Problem ist doch, dass sich dieser Prozess schleichend vollzieht. Das gilt für die Transferunion wie für den europäischen Haftbefehl, aufgrund dessen man eines Tages in einem rumänischen Gefängnis aufwacht.

BM Schäuble: Und auch zum Schluss noch eine falsche Unterstellung! Was wir bisher in Europa erreicht haben, ist durch das Grundgesetz ausreichend legitimiert. Das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt. Auch das Bundesverfassungsgericht fühlt sich der Präambel des Grundgesetzes verpflichtet.

Das Gespräch führte Reinhard Müller.

Alle Rechte: Frankfurter Allgemeine Zeitung.